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Stille Tage in Schweden

Paddelparadies: das Värmland © Andreas Lorenz

Eine Kanutour durchs Värmland

von Andreas Lorenz

Das grenzenlose Paddelland liegt nördlich von Göteborg: im Värmland. Als Teil des Kanugebietes Dalsland-Nordmark zählt die Region zu den größten Seenlandschaften Europas.

Ein Landgang bleibt hier die Ausnahme, denn die Gewässer sind durch Kanäle miteinander verbunden. Und wenn ein Wasserweg doch gesperrt sein sollte, kann man auf eines immer zählen: die Bestechlichkeit der Schleusenwärter.

 

Typisch Värmland: Wasser und Wald, sonst nichts © Andreas Lorenz

Im Kanucamp

Das erste, was auffällt: die Stille. Kein Wind geht, der Lelang-See ruht wellenlos zwischen Mischwäldern, cremerot schimmernde Granitfelsen schmiegen sich ans glitzernde Wasser. Am Kiesstrand stehen zwei Kanus, dahinter spannt sich eine Hängematte zwischen zwei Bäumen. Der ideale Ort, einen kräftigen Morgenkaffee zu schlürfen und auf den See hinauszublinzeln. Selbst Edvard Griegs "Morgenstimmung" brächte jetzt zuviel Aufregung. Da plötzlich schießt ein schmaler Umriss im Gegenlicht lautlos aufs Wasser nieder. Ein Platschen, ein Flattern - schon ist alles vorbei.

"Ganz in der Nähe wohnen zwei Fischadler, die haben eine ganze Vogelschutzinsel für sich." Urs Schmid sitzt vor der Holzhütte im Kanu-Camp. Der 20-jährige BWL-Student und 400-Meter-Läufer hat den ganzen Sommer lang Kanugruppen durchs Värmland geführt. "Das Värmland ist das seenreichste Gebiet in Schweden", referiert er in seiner schwäbischen Mundart und weiß, dass er dabei ein bisschen nach Reiseleiter klingt.

 

Morgenstimmung am Lelang-See © Andreas Lorenz

Schmiergeld an der Schleuse

Die Amphibienlandschaft liegt etwa drei Autostunden nördlich von Göteborg, zwischen dem riesigen Vänern-See und der norwegischen Grenze. Die überwiegend autofreien Straßen in diesem menschenleeren Seenmosaik führen zwangsläufig an irgendeinem Ufer entlang. Eine nordische Landschaft unter fliehendem Himmel, den nur sanft gewellte Waldhügel zähmen.

Die Seen des Värmlands sind untereinander durch Kanäle verbunden. Orte heißen hier Gustavsfors, Bengtsfors oder Lennartsfors. Die Endung -fors steht für die Schleusen, welche den Wasserstand der Kanäle regulieren. Solange die Schleusen geöffnet sind, können die Kanuteams das Värmland befahren, ohne einmal an Land zu gehen. Ein Wassersystem ohne Sackgasse.

Bis Ende August herrscht freie Durchfahrt, danach muss man umtragen: die Kanus auf einen zweirädrigen Handkarren schnallen und bis zum nächsten Seeufer rollen. Das könne einem nach einer Weile auf den Keks gehen, sagt Schmid, kennt aber einen Sesam-öffne-dich: "Den Schleusenwärter mit Spirituosen bestechen, dann geht´s auch ohne Umtragen."

 

Schwedische Spätsommerfarben © Andreas Lorenz

Elchfriedhof

Das Kanucamp am Ufer des Lelang war früher ein Bauernhof. Auf der Wiese neben dem Geräteschuppen stehen Apfelbäume. Ein gefundenes Fressen für Elche, die jeder Neuankömmling zu sehen hofft. Urs Schmid schickt die Leute um halb sechs morgens auf eine nahe Lichtung. "In den frühen Morgenstunden kommen dort Elche auf die Wiesen, um Tau zu lecken und Gras zu essen. Es sind träge Tiere, die gemütlich weiter laufen, wenn sie dich sehen." Man müsse ja einen Elch gesehen haben in Schweden.

Am wahrscheinlichsten ist es, der skandinavischen Tierlegende bei einer Nachtfahrt zu begegnen. Nördlich von Göteborg endet die von Zäunen umgrenzte Autobahn, die schwedische Fauna bekommt freien Zutritt zur Straße. Manchmal herrscht reger Betrieb an der Strecke, so bei der Hinfahrt von Hamburg entlang der Vogelfluglinie hoch ins Värmland: Zuerst streift ein Luchs am Waldrand entlang, dann kreuzt ein Reh, ein Husky steht am Weg. Und schließlich erscheint ein schwarzer Schatten knapp außerhalb des Scheinwerferlicht-Kegels. Vollbremsung, Aufschrecken aus dem Halbschlaf und fasziniertes Starren auf die Fahrbahn, bis der Elch wieder im Wald verschwindet.

Aber nicht nur lebendige Exemplare faszinieren die Värmland-Gäste. Nördlich von Gustafsfors liegen Knochen und Hufe ausgeweideter Tiere im Wald versteckt. Der Elchfriedhof, beliebt bei Fans des Makabren und fester Programmpunkt der Kanuwochen im Värmland.

 

Paddeln und entspannen © Andreas Lorenz

Auf dem Wasser

Die Reisegruppe, die gerade Pause macht am Ufer des Östra Silen, hatte kein Pech mit dem Schleusenwärter. Dass sie schleppen musste, hat mit dem schwedischen Sommer zu tun: Er ist einfach zu gut gewesen. Der Kanal zum See führt nicht genug Wasser für die Kanus, ein Landgang war unvermeidlich. Jetzt nach dem Umtragen liegen alle im Sand und genießen das stabile skandinavische Hoch.

Dann gleiten die Kanus ins Wasser. Das Balancieren beim Einsteigen wirkt nach vier Tagen Paddeln schon sehr routioniert, und Sebastian Schneider erzählt von dem Typen mit dem Turnschuhen: "Der hatte keine Lust, sich nass zu machen, was bei einer Kanutour nun mal schwierig ist." Er habe seine Turnschuhe nie ausgezogen und stattdessen immer versucht, ins Boot zu springen. "Ein paar Mal hat er sich dann lang gelegt, aber das Boot ist komischerweise nie umgekippt."

 

Hat eine Vorliebe für skurrile Kunden: Kanuguide Sebastian Schneider © Andreas Lorenz

Der Ameisenfreund

Schneider ist seit vier Monaten im Värmland und fährt mit Zehnergruppen á fünf Kanus über die Seen. Es hat ihn wohl gepackt, denn wenn in Schweden die Kanusaison Ende September vorbei ist, geht er als Guide nach Brasilien.

Was ihn dort erwartet, weiß er noch nicht genau. Wahrscheinlich hofft er auf skurrile Kunden. So einen wie den Tierkundler mit dem GPS-System: "Der hat uns erzählt, er würde damit Ameisenvölker in Deutschland kartographieren."

Der Östra Silen ist ein typischer Värmland-See: langgezogen, schmal, von einem grünen Waldgürtel umrahmt. Sobald das Kanu weit genug vom Ufer entfernt ist und die meisten Paddel ruhen, beginnt eine Überfahrt im Zeitlupentempo: Das glatte Wasser schimmert tiefblau, die Uferwälder schweben in Sequenzen vorbei, der Blick wandert bedächtig, weil er nichts Spektakuläres oder Überraschendes erwartet. Visuelle Entspannung im Rhythmus gleichmütiger Ruderschläge. Das Herz dieser ruhigen Landschaft müsste wohl in der Mitte dieser Seen schlagen.

 

Nicht Moskito-sicher: Värmländisches Plumpsklo © Andreas Lorenz

Plumpsklo mit Herz

Mitten auf dem Östra Silen erhebt sich eine bewaldete kleine Insel. Zu klein, um einen Namen zu haben. Unser Nachtlager. Das Kanuteam legt an, die üblichen Entdeckertypen zuerst, die Bummler mit fünf Minuten Verspätung. Jeder hat sein Tempo gefunden - und seine Rolle beim Auspacken: Die wasserdichten blauen Tonnen, die auf See in der Mitte des Kanus verstaut sind, werden rasch ans Ufer geschleppt, Proviant, Schlafsäcke und Kameras hervorgeholt und eine Plane über die Feuerstelle gespannt. Das alles geht reibungslos, fast diszipliniert vonstatten. Die Leute in der Gruppe scheinen sich riechen zu können. Das kann nur von Vorteil sein, wenn sich ein gutes Dutzend Hobbykanuten auf einer Insel tummeln, die man in fünf Minuten umschwommen hat.

Eine Stunde später schimmert der See im Abendrot. Die glatten Ufersteine geben noch Wärme ab, die angebundenen Kanus klappern im Abendwind gegeneinander, das Lagerfeuer flackert schon zwischen den Bäumen. Etwa zwanzig Meter Luftlinie inseleinwärts steht das grün gestrichene Plumpsklo, einzige verfügbare sanitäre Einrichtung bis zum nächsten Tag. Die schwedische Freilufttoiletten gelten normalerweise als nicht moskito-sicher, auch wegen des herzförmigen Lochs über der Tür. Zum Glück haben sich die värmländischen Mücken schon verabschiedet.

 

Bootsanlegestelle am Östra Silen © Andreas Lorenz

Der Unternehmer

Der Mann, der hinter den Kanutouren im Värmland steckt, heißt Stefan Leschni. 29 Jahre alt, gebürtiger Bottroper. Zopf, Jeans, Turnschuhe. Ein Jungunternehmer, der so gelassen wirkt wie die Landschaft, die am Anfang seiner Karriere stand. 1997 hat Leschni begonnen, Reisen zu verkaufen. Das erste Urlaubspaket hat er über den Äther beworben, eine kurze Radionotiz bei Eins Live: Stefan lädt ein zum Kanu-Urlaub im Värmland. Dazu der Hinweis, die Anreise bitte selber zu organisieren. Ein Tourveranstalter war geboren.

"Abenteuerteam" heißt Leschnis Firma, Sitz in Münster, Westfalen. Dort kommen ab und an Leute vorbei, die ihm von touristisch noch unerschlossenen Gegenden vorschwärmen. Dimitre Trendasilov zum Beispiel. Der stand irgendwann mit einer Idee für sein Heimatland Bulgarien im Büro. Leschni gefiel sie, er schickte Dimitre dorthin. In diesem Jahr gehören die Rhodopen erstmals zum Programm. Und auch außereuropäische Regionen sind mittlerweile im Katalog zu finden: Indonesien, Brasilien, Sibirien.

 

Beratung vor der Kanucamp-Scheune: Dimitre Trendasilov, Stefan Leschni, Urs Schmid (v.l.n.r.) © Andreas Lorenz

Glück im Unglück

Das 20-köpfige Reiseunternehmen bildet eine Ausnahme in der Urlaubsbranche: Der 11. September 2001 hat ihm keinen Buchungseinbruch beschert. Vor allem die Kanutouren erfreuen sich größerer Beliebtheit als je zuvor. Leschni: "Schweden profitiert davon, dass es mit dem Wagen zu erreichen ist. Viele, die sonst immer weit weg fliegen, haben sich jetzt mal ins Auto gesetzt und sind ins Värmland gefahren."

Ein anderer Verkaufsfaktor soll in Zukunft das Wetter werden. "Die Leute denken bei Schweden normalerweise an Regen, Wind und Mücken. Aber der letzte Sommer war ganz anders. Während die Leute in Ostdeutschland ihre überfluteten Wohnungen räumen mussten, erzählen die Schwedenurlauber, dass es nicht ein einziges Mal geregnet hat." Der Sommer 2002, so Leschni, habe die klimatischen Vorurteile gegenüber Skandinavien widerlegt.

 

Willkommen im Värmland © Andreas Lorenz

Poser-Corso in Årjäng

Stippvisite in einer schwedischen Kleinstadt. Årjäng sieht aus wie ein Provinznest an der kanadischen Westküste. Flache Dächer, breite Straßen, Geländewagen und Supermärkte. Das Kaff liegt an der E 18 Oslo-Stockholm, eine Transitstation zu den Hauptstädten - und die nächstgelegene Möglichkeit zum Einkaufen für Värmland-Kanuten.

Die Passion der Einwohner erkennt jeder Fremde auf Anhieb: Am frühen Nachmittag cruisen diverse Karosserien vom knallroten, endlos langen Buick bis zum aufgetunten Volkswagen langsam Årjängs Hauptstraße rauf und runter. Fenster geöffnet, Ellenbogen draußen, dazu Technobässe und Metal-Gitarrenriffs. Mike schüttelt nachsichtig den Kopf. "Das geht den ganzen Tag so."

Mike ist auch einer aus dem Kanu-Team. Der lebende Beweis, das Leschni sein Personal meistens nicht auf die übliche Art per Inserat und Einstellungsgespräch rekrutiert. Mike trampte gerade nach Schleswig-Holstein zu seiner Mutter. Leschni nahm ihn mit - bis nach Schweden. "Ich hatte gerade nix anderes zu tun", sagt Mike, nimmt sich eine Prince Denmark und schaut dem roten Buick nach, der zum zehnten Mal die Autopromenade von Årjäng entlang schleicht.